Ungleiche Schwestern

Mutter Erde kennt Vaterländer und auch Brudervölker sind ihr ein Begriff. Doch was nun „Schwesterstädte“ sind, vermag so recht niemand zu sagen.

Luxemburg ist eine Schwesterstadt – behaupten zumindest Triers Stadtobere. Mit der eher unbestimmten Wortschöpfung wollen die Moselstädter ihre enge Verbundenheit mit der nur 45 Kilometer entfernten Kapitale des Großherzogtums ausdrücken. Wenn schon nicht Partner-, dann wenigstens Schwesterstadt, scheint die Devise im Rathaus zu lauten. Tatsächlich handelt es sich um Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, doch verrät ein erster Blick auf die topografische, bauliche und kulturelle Gegenwart wenig über jene historische Verbundenheit, die das besondere Verhältnis der beiden Städte zueinander begründet.

Wir schreiben das Jahr 963: Siegfried I., Graf im Moselgau, erwirbt vom Trierer Kloster St. Maximin den so genannten Bockfelsen. Der liegt oberhalb des kleinen Flüsschens Alzette, dort, wo sich einst die Römerstraßen Trier-Reims und Köln-Metz kreuzten. Hier steht auch bereits ein kleines Kastell (Luciliniburhuck). Für den Erwerb des Bockfelsens überlässt Siegfried den Trierern ein paar Ländereien in der Nähe des heutigen Ettelbrück. So steht am Anfang der Geschwisterbeziehung ein schnöder Tauschakt. Doch während Luxemburg jetzt erste Konturen annimmt, scheint Trier seine besten, oder besser, bedeutendsten Jahre schon hinter sich zu haben.

Schließlich hatte die Moselstadt um die erste Jahrtausendwende bereits einiges von dem einbüßen müssen, was ihren bis heute nachhallenden Ruf, ein „Rom des Nordens“ zu sein, begründet. Mutmaßlich um 16 vor Christi Geburt gegründet, mauserte sich die Augusta Treverorum auch dank ihrer verkehrgünstigen Lage rasch zu einer prosperierenden Römerstadt. In der Frühzeit Triers entstanden bereits die ersten Thermenanlagen.

Deren Grundrisse fanden sich Mitte der 1980er Jahre bei Ausschachtungsarbeiten für eine Tiefgarage. Heute verstecken sich die „Forums-Thermen“ unter einem gewaltigen, von Oswald M. Ungers entworfenen und seit jeher umstrittenen Glaskubus auf dem zentralen Viehmarkt. Im 2. Jahrhundert dann gesellte sich eine zweite Badeanlage hinzu: Die Barbarathermen mussten den Vergleich mit Roms Badetempeln nicht scheuen, doch heute fristen sie, abseits der üblichen Touristenströme, eher ein Schattendasein.

Nach empfindlichen Zerstörungen durch Franken und Alamannen im dritten Jahrhundert, erwachte Trier wieder zu neuem Leben. Unter Constantius Chlorus stieg die nunmehr Treveris genannte Stadt zur Kaiserresidenz auf, und wer sich einen Eindruck von diesen ruhmreichen Zeiten machen will, der begegnet bauhistorischen Zeugnissen auf Schritt und Tritt.

So bei einem Besuch der evangelischen „Kirche zum Erlöser“, im Volksmund nur „Basilika“ genannt. Schon von außen beeindruckt der gewaltige Ziegelbau, doch wer die einstige römische Palastaula betritt, wird schier überwältigt von deren Dimensionen. In den säulenlosen, schlichten und doch nicht kühl wirkenden Raum ließe sich mühelos die gesamte Porta Nigra unterbringen.

Vom Vorplatz der Basilika aus erblickt man bereits die Domstadt, deren Mittelpunkt die älteste Bischofskirche Deutschlands sowie die im gotischen Stil errichtete Liebfrauenkirche bilden. Wer in den Abendstunden vom Hauptmarkt aus kommend die illuminierte Westfassade des Doms erblickt, den mag die Wucht des imposanten Bauwerks regelrecht einschüchtern. Dabei erreichen die Ausmaße der heutigen Kathedrale nicht im Ansatz die Dimension des römischen Vorgängerbaus.

Gleich hinter der Westfassade, im Inneren des Doms, befindet sich das prächtige Grab Balduins von Luxemburg. Der wohl bedeutendste Kurfürst Triers zählte Anfang des 14. Jahrhunderts zu den einflussreichsten Politikern im Heiligen Römischen Reich. Und Balduin darf bis heute als der wohl wichtigste Luxemburger gelten, der je in Trier gewirkt hat.

Just in jenem Jahr aber, da Balduin das Zeitliche segnete, avancierte Luxemburg zum Herzogtum. Jahre zuvor hatte bereits der Bau der imposanten mittelalterlichen Ringmauer begonnen, welche über Jahrhunderte Oberstadt und Umland trennen sollte. Auch der Marquis de Vauban legte Hand an und bald schon galt Luxemburg als das „Gibraltar des Nordens“. Die unterschiedlichsten Mächte wechselten sich hier ab: ob Burgunder, Spanier, Franzosen oder Österreicher und auch die Preußen wussten Luxemburgs Festungsanlage zu schätzen, die mit dem Bau der mehr als 20 Kilometer langen Kasematten im 17. Jahrhundert weiter an Wehrhaftigkeit gewonnen hatte.

Mit dem Abzug der Preußen und der Entscheidung Frankreichs, Luxemburg nicht zu erwerben, fiel für die Festung der Vorhang. Denn im Londoner Vertrag von 1867 sicherte der niederländische König, der in Personalunion auch Großherzog Luxemburgs war, zu, die gewaltigen Anlagen zu schleifen.

Doch bis heute verleihen die pittoresk anmutenden Überreste der Stadtsilhouette Züge einer Eisenbahnlandschaft. Wer beispielsweise mit der Bahn von Trier aus anreist, kann sich dieses Eindrucks kaum erwehren. Fällt der Blick von der Eisenbahnbrücke in den „Grund“, wähnt man sich in beschaulicher Provinz. Blickt man stattdessen gen Nordosten, genauer in Richtung Kirchberg, wird die eigene Wahrnehmung dann arg korrigiert.

Überhaupt ist Luxemburg eine Stadt der Gegensätze, ein Ort, an dem nichts zusammenzupassen und doch alles eine Einheit zu bilden scheint. Selbstgenügsames Kleinstadtflair erlebt der Passant in den Seitenstraßen der Oberstadt sowie in den Tälern, metropolenverdächtige Geschäftigkeit begegnet dem Besucher auf dem von Bürobauten gesäumten „Boulevard Royal“ oder auf der prächtigen „Avenue de la Liberté“.

Auf dem Kirchberg erhebt sich unterdessen Architektur vom Feinsten. Unter anderem die imposante, vom Pariser Stararchitekten Christian de Portzamparc entworfene neue Philharmonie. Mit seiner aus mehr als 800 kalkweißen Steinkolonnen gebildeten, lichtdurchlässigen Fassade, bildet der Musiktempel einen leuchtenden Kontrapunkt zur grauen Tristesse, die den „Place de l’Europe“ ansonsten umgibt. Auch das vom sino-amerikanischen Baukünstler geschaffene und nur wenige Fußminuten entfernt gelegene „Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean“, kurz MUDAM, setzt neue Maßstäbe. Historisches Fortgemäuer und gläserne Moderne fließen hier ineinander.

Ob MUDAM oder Philharmonie – beide Gebäude untermauern Luxemburgs Anspruch, nicht bloß 80.000-Einwohner-Stadt, sondern gleichsam Kapitale von europäischem Rang zu sein. Umso ernüchternder, dass Peis’ und Portzamparcs Architektur sich inmitten uninspirierter Zweckbauten wieder findet: die beiden, gestauchten Glasquadern ähnelnden Hochhäuser, mindern die Wirkung der Philharmonie beträchtlich.

An der Porte de l’Europe auf dem Kirchberg zeigen sich denn auch gleichermaßen Genialität und Grenzen von Luxemburgs Stadtplanung. Dass nun zwei weitere Hochhäuser in den Himmel wachsen, die Teile des Europäischen Gerichtshofs beherbergen sollen, lässt nichts Gutes erwachten.

Ist all dies Ausdruck lokalpatriotisch motivierten Größenwahns? Wenn dem so sein sollte, würden sich die beiden ungleichen Schwestern Trier und Luxemburg doch mehr ähneln, als ihnen lieb sein kann. Denn wie im Großherzogtum pflegt man auch in der Moselstadt einen gewissen Metropolenkomplex.

Nicht nur, dass Trier sich abwechselnd „größte Kleinstadt“ oder „kleinste Großstadt“ Deutschlands nennen muss – im Bewusstsein ihrer ruhmreichen Historie, scheinen viele Trierer zudem noch immer beseelt von dem Irrglauben, Größe und Monumentalität seien mit Attraktivität und Bedeutung gleichzusetzen. Auch der Autor dieser Zeilen ist nicht frei von gelegentlichen Rückfällen in solcherart Denkmuster.

Tatsächlich entfaltet sich Triers Charme jedoch abseits dessen, was gemeinhin Großstadtflair garantieren soll. Wer nur einmal durch die engen Gassen hinter dem Trierer Dom wandelte, sich dort der vielen Kurien erfreute und hernach Straßen durchquerte, die „Kleine Eulenpfütz“ oder Predigerstraße heißen; wer vom alten Fischereiviertel „Zurlauben“ die in der warmen Abendsonne liegenden Sandsteinfelsen erblickte – der ist Triers wirklichen Reizen erlegen.

So wie ja auch Luxemburgs Schönheit sich vor allem im „Grund“ zeigt. Unterhalb der Oberstadt und entlang der gemächlich dahin fließenden Alzette gelegen, besticht der Stadtteil durch seine wohltuende Unaufgeregtheit. Nichts erinnert hier an das hektische Treiben, das zumindest an Werktagen die Oberstadt dominiert. Obendrein genießt man von der im „Grund“ gelegenen Abtei Neumünster eine fantastische Aussicht auf die in den Abendstunden dezent und geheimnisvoll angestrahlten Festungsanlagen. Spätestens hier, wo Luxemburg ganz klein ist, wird man der ganzen Großartigkeit der alten Festungsstadt Gewahr.

Trier und Luxemburg – zwei gerne große Schwestern, deren Reize oft im Verborgenen liegen. Gemessen an internationalen Maßstäben ist man Provinz. So what!?

(Dieser Beitrag erschien in dem zwischenzeitlich vergriffenen Buch „Im Reich der Mitte – Le Berceau de la Civilisation Européenne, einem Projekt anlässlich der Kulturhauptstadt Europa – Luxemburg und die Großregion 2008)